Into New Strategic Waters: Die Zukunft von Auslandseinsätzen und die Rolle des Militärs im Angesicht von Afghanistan

Into New Strategic Waters: Die Zukunft von Auslandseinsätzen und die Rolle des Militärs im Angesicht von Afghanistan

Seit dem hastigen Abzug aus Afghanistan sind nun etwas mehr als eineinhalb Jahre vergangen. Viel wurde über die Ausübung von Auslandseinsätzen diskutiert und neu bewertet. Doch nachdem sich nun der Nebel der ad hoc-Analysen gelegt hat, stellt sich noch immer die Frage, inwiefern dies umgesetzt werden kann. Ein vielversprechendes Modell bietet die von Mathias Voß entwickelte der „strategical analysis“ (Siehe Voss, 2021, 61ff.). Auf Grundlage dieses Modells können Handlungsempfehlungen für zukünftige strategische Planungen von Auslandseinsätzen neu gedacht und präziser verfolgt werden.

Zeit als strategische Komponente

20 Jahre Afghanistan – Eine lange Zeit. Doch war die Zeit ausreichend, um die selbst auferlegten politischen Ziele realistisch zu erreichen?

Viele strategische Konzepte denken den Faktor Zeit nicht mit (Ebd., S. 62) und Einsätze werden ohne die nötige Berücksichtigung dieses Faktors beschlossen. Viele Benchmarks werden formuliert und schnellstens abgehakt. Eine Nachhaltigkeit der Ziele ist damit unrealistisch. Strategische Ziele sind keine vorgefertigte Kausalabfolge von einzelnen Zielen, sondern als verschiedene Stränge über Zeit zu betrachten, die sich verstärken oder als Pareto-optimum gegenseitig sogar unterminieren können.

Als in Afghanistan „demokratische Wahlen“ abgehalten wurden, war das Ziel der Demokratisierung dann nicht erreicht? Hier stellt sich die Kernfrage von Auslandseinsätzen: Sollen Ziele nur um deren Erreichung Willen erzielt werden, oder steht dahinter eine nachhaltigere Agenda?

Die Zielerreichung einer Strategie wird von verschiedensten Variablen beeinflusst, die sich über Zeit immer wieder verändern. Ein abgeschlossener Endzustand von formulierten strategischen Zielen kann daher nie erreicht werden (Ebd., S. 62). Bei zukünftigen Einsätzen muss die Zeitachse von Anfang an mitgedacht werden. Eine Strategie kann in die Variable f(t) (siehe Abb.1) eingreifen und diese über Zeit verändern, aber nicht zu einem Endzustand führen, denn die Variablen laufen auch nach dem Ende einer Strategie oder eines Auslandseinsatzes weiter. Der NATO-Truppenabzug zeigt, dass erreichte strategische Ziele, nach Beendigung von Einsätzen, wieder verfallen können. Einsätze der UN zeigen, dass Konflikte nach weitaus mehr als 20 Jahren noch nicht gelöst sind. UNMOGIP ist beispielsweise seit 1949 aktiv und MINURSO versucht seit 1991 den Konflikt in der Westsahara zu lösen. Bei beiden Konflikten ist kein Ende absehbar, trotz dessen bleiben die UN mit ihren Missionen aktiv. Teilweise werden Friedensmissionen auch angepasst, da sich die Variablen für eine erfolgreiche Mission ändern. Auch Clausewitz merkte bereits an,

„Da der Krieg kein Akt blinder Leidenschaft ist, sondern der politische Zweck darin vorwaltet, so muß der Wert, den dieser hat, die Größe der Aufopferungen bestimmten, womit wir ihn erkaufen wollen. Dies wird nicht bloß der Fall sein, bei ihrem Umfang, sondern auch bei ihrer Dauer.“ (Clausewitz, 1834 [2018], S. 51)

Bei der Entscheidung, ob ein deutscher Einsatz etabliert werden soll, muss also von Anfang an und fortlaufend die Frage gestellt werden, in welchem Umfang und welche Dauer sind wir bereit zu leisten und was passiert danach?

Abb. 1: Strategische Beispielabbildung nach Voss (S. 65).

Alle Variablen betrachten

Die verschiedenen Einsatzvariablen beeinflussen natürlich die Zielerreichung. Ist das strategische Ziel wie in Afghanistan beispielsweise „Nationbuilding“, so könnte dies von Variablen wie der ökonomischen Situation vor Ort, der Schlagfähigkeit der Taliban oder etwa der Sicherheit der Zivilbevölkerung beeinflusst werden. Diese können dabei unterschiedliches Gewicht einnehmen (Voss, 2021, S. 64). Mathematisch betrachtet könnte das, mit Blick auf Abbildung 1, z.B. f(t) = a*b3*c4*2d*e bedeuten (Ebd., S. 64). Eine essenzielle Variable für eine erfolgreiche strategische Durchführung von Einsätzen ist beispielweise die öffentliche Meinung. Lehnt die Öffentlichkeit einen Einsatz ab, ist eine strategische Durchführung auf lange Zeit nahezu unmöglich. Auch hier zeigt sich, dass strategische Variablen von Auslandseinsätzen nicht nur aus Munition, Brücken und Straßen bestehen. Zugleich können die verschiedenen Variablen einer Strategie jeweils weiter aufgebrochen, priorisiert und mit verschiedenen Minimal- und Strategiezielzonen versehen werden (exemplarisch für Afghanistan Abb.2). Diese müssen von den StrategiearchitektInnen selbst festgelegt werden.

Abb.2: Strategische Betrachtung von Variablen am Beispiel „Nationbuilding in Afghanistan“ nach Voss, S.65

Nicht alle Variablen sind beeinflussbar (Ebd., S. 64). Viel hängt von Variablen ab, die von dem Einsatz gar nicht oder zumindest weniger beeinflussbar bleiben. Nicht beeinflussbare Variablen sollten lediglich als Teil des strategischen Umfelds, in dem operiert wird, betrachtet werden (Ebd., S. 64). Je breiter ein Einsatz jedoch aufgestellt wird, beispielsweise durch Vernetzten Ansatz und Diversifizierung von Instrumenten, desto mehr Variablen sind beeinflussbar. Gleichzeitig müssen Handlungsweisen auf ihren Einfluss auf Variablen über Zeit überprüft und definiert werden, was nicht auf dem Weg in die Strategieerreichungszone passieren darf (Ebd., S. 62). Ist es sinnvoll, die Taliban durch Angriffe zu schwächen, wenn dabei Zivilisten sterben? Der kurzfristige Effekt wäre möglicherweise eine Verbesserung der Variable der Sicherheitssituation. Langfristig würde eine damit einhergehende Bevölkerungsunzufriedenheit jedoch einen Abwärtstrend anderer Variablen verursachen und damit vielleicht das strategische Gesamtziel unterminieren.  Damit stellt sich auch die Frage, welche Variablen ein Pareto-Optimum darstellen und wie diese miteinander abgewogen werden können.

„Wo stehen wir eigentlich?“

Mit der Etablierung eines Einsatzes müssen Variablen, die für einen Erfolg notwendig sind, identifiziert sowie passsende Instrumente für die Beeinflussung benannt und eingesetzt werden. Variablen müssen operationalisiert werden und fortlaufend durch ein Monitoringsystem messbar sein, damit Entscheidungen adäquat angepasst werden können. Das Ziel einer Strategie ist dann, den Bereich unter allen Kurven der Variablen zu maximieren (Ebd., S. 66). Durch Nutzung einer Signpost-Analyse (Abb.3) kann jederzeit kenntlich gemacht werden, wie der aktuelle Stand für eine Variable ist. Durch die Betrachtung der Signpost-Ereignisse wird die ungefähre Lage der Funktion bestimmt und geprüft, ob das Minimallevel unterschritten wird. Anhand der Antizipierung von Situationen können für bestimmte Ereignisse im Vorfeld konkrete Schritte festgelegt werden.

Abb. 3: Beispiel einer Signpost-Analyse für die Sicherheitssituation

Selbstverständlich ist nicht jede Variable von Beginn an identifizierbar. Ein offener Umgang mit neu identifizierten Variablen ist daher essenziell. Alle identifizierten Variablen sollten in ihrer Signifikanz gewichtet und neu identifizierte Variablen stets hinzugefügt werden. Dabei spielt auch die zeitliche Komponente eine zentrale Rolle: Die Veränderung des strategischen Umfeldes kann neue-, obsolet gewordene Variablen oder ein Wandel der Gewichtung bedeuten. Eine Evaluation der Strategie sollte also regelmäßig erfolgen. In Verbindung zum fortlaufenden Monitoring, ist damit eine schnelle Anpassung der Gesamtstrategie und der einzelnen Variablen gewährleistet.

Was kann die militärische Komponente noch leisten?

Ein Wandel der militärischen Komponente vom Hauptakteur zu einer anteiligen Komponente ist für alle Einsätze unerlässlich. Dazu müssen praktische Fragen zum Einsatz von militärischen Mitteln gestellt werden:

  • Welche Teilziele kann die militärische Komponente eines Einsatzes zur Erreichung der übergeordneten Ziele beitragen?
  • Welche Variablen können mit militärischen Mitteln zu unseren Gunsten beeinflusst werden?

Clausewitz betrachtete die militärische Kriegsführung als „[…] ein Akt der Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (Clausewitz, 1834 [2018], S. 24). Aber in einem asymmetrischen Konflikt, wie in Afghanistan, in dem das Ziel Nationbuilding darstellt, darf das Militärische nicht das einzig eingesetzte Instrument darstellen. Es könnte dem Gegner natürlich ein „stabiler Staat“ oder eine Demokratie mit massiven militärischen Mitteln aufgezwungen werden. Diese können aber nur so lange aufgezwungen werden, wie Einsatzkräfte präsent sind. Danach ist eine Rückkehr zum status quo ante wahrscheinlich. Für eine nachhaltige Umsetzung von Zielen ist daher eine Diversifizierung der Instrumente unbedingt notwendig.

Für das Ziel der Schwächung der Taliban, war der Einsatz von physischen Gewaltmitteln das klare Instrument der Wahl. Beim Nationbuilding ist das militärische Instrument jedoch wesentlich begrenzter. Aktivitäten wie Raumnahme, Schutz der Zivilbevölkerung und Ausbildung des afghanischen Sicherheitspersonals sind notwendige Variablen für ein erfolgreiches Nationbuilding, reichen aber für die Zielerreichung nicht aus. Die Ausführung des Vernetzten Ansatzes in Afghanistan war nicht divers genug und zu schwammig. Er ist in seiner Ausübung, durch ein Ungleichgewicht der Akteure und Koordinierungsproblemen an seine Grenzen gestoßen (Matthay, 2021). Eine Dominanz des Militärs muss ausgeschlossen werden, um eine Diversität an Instrumenten zur Variablenbeeinflussung bereit zu stellen. Die militärische Komponente stellt bei Nationbuilding-Einsätzen nur einen Stein im Mosaik dar. Zielführend wäre daher die Einrichtung eines Einsatzstabes für die verschiedenen Missionen, mit Vertretern aller betroffenen Ressorts, die eine Gesamtstrategie entwickeln, laufend die Effektivität überprüfen und Anpassungen vornehmen. Dieser strategische Ansatz ermöglicht es, Variablen zu identifizieren und zu gewichten, um betroffene Ressorts zu identifizieren und nachhaltig in die Strategieentwicklung einzubinden.

Literaturverzeichnis

Clausewitz, Carl von 1834 [2018]: Vom Kriege. Ausgewählt und herausgegeben von Kai Kilian. Köln: Anaconda.

Matthay, Sabina 2021: Was der “vernetzte Ansatz” beim Afghanistan-Einsatz gebracht hat – und was nicht. Deutschlandfunk. Online verfügbar unter https://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-sicherheit-vernetzter-ansatz-100.html, zuletzt geprüft am 27.10.2022.

Voss, Mathias 2021: Defence in a changing world. How defensive should (NATO) defence be? Baden-Baden: Nomos (GIDS Analysis, Volume 4).

Adrian Steube ist Masterstudent im Studiengang Internationale Beziehungen und Diplomatie an der Universität Trier.